TYPISCH TOM RACHMAN: Als Meisterwerk bietet sein neuer Roman „Die Gesichter“ unterschiedliche Leserarten an – inklusive des Vergnügens biografischer Spurensuche. Welche Künstlergröße und Möchtegerns hatte der Autor beim Schreiben wohl als Vorbilder vor Augen? Picasso? Pollock? Sicher ist: Der Schriftsteller aus London, der seit seinem Debüt „Die Unperfekten“ als Ausnahmetalent gilt, ging auch mit sich selbst ins Gericht: Ob er familientauglich wäre? Oder eine Zumutung für die Seinen? Das Resultat: eine furios-feinsinnige Vater-Sohn-Geschichte über die Suche nach der eigenen Bestimmung.

Wenn Sie jetzt anfangen würden, ein Bild zu malen: Welche Farben würden Sie wählen?
Es wäre ein wilder bunter Wirbel. Sie müssten mir glauben, dass das eine chaotische Künstlerpersönlichkeit darstellt. In Wirklichkeit bin ich farbenblind.

Und wie würden Sie malend Ihr gegenwärtiges Lebensgefühl zum Ausdruck bringen? Abstrakt oder gegenständlich?
Abstrakte Malerei schaue ich mir zwar gern an, aber das Schreiben hat mehr mit gegenständlicher Kunst zu tun, ja sogar mit Porträtmalerei. Vielleicht kann man es so bezeichnen: Abstrakte Porträtmalerei – aber in keinem Fall Selbstporträts.

Im Mittelpunkt Ihres neuen Romans steht eine außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit: Bear Bavinsky. Warum haben Sie ihn zum Maler gemacht?
Er ist Maler aus dem gleichen Grund, aus dem ich Schriftsteller bin: aus dem Verlangen, das eigene Ich auszudrücken durch das, was man sieht. Bear ist ein echtes Scheusal. Ich hoffe, dass wir uns in dieser Hinsicht unterscheiden!

Hat Bear Vorbilder?
Bear ist ein unersättlicher Egoist. In der Kunstgeschichte gilt das für alle Großen. Warum sind so viele erhabene Schöpfer als Privatmenschen solche Ekel? Macht sie gerade das so großartig? Oder ist Größe ein Vorwand, sich derart widerwärtig zu benehmen? Das sind Fragen, die sich durch diesen Roman hindurchziehen.

Wie würden Sie Bears Anspruch auf den Punkt bringen?
Er will einer der wichtigsten Künstler aller Zeiten werden. Vor allem will er durch seine Bedeutung als Künstler und durch sein Werk die eigene Sterblichkeit überwinden – egal, um welchen Preis.

Mit Vorliebe gibt Bear Anekdoten zum Besten, in denen er sich selbst mit de Kooning und Picasso in einem Atemzug nennt. Haben Sie solche Geschichten in Künstler-Tagebüchern oder Archiven aufgestöbert? Oder selbst erfunden, um Wesenszüge von Bear zu unterstreichen?
Sowohl als auch. Ich habe viel recherchiert und authentische Anekdoten neben erfundenen in den Roman aufgenommen. Natürlich sind die echten schwerer zu glauben.

„Warum sind Künstler so eigenartig?“

In Ihrem Roman kommt die Kunstwelt von Dürer bis zur Gegenwart vor. Sie müssen sich sehr intensiv mit Kunst befasst haben …
Oh ja, ich hatte von Kindheit an mit Kunst zu tun, da sich meine Eltern beide sehr dafür begeisterten. Kreativität als solche sowie Menschen, die über diese magische Fähigkeit verfügen, haben mich von Jugend an fasziniert. Warum sind Künstler so eigenartig?

Bei welchem der Weltrang-Künstler, die in ihrem Roman genannt werden, hätten Sie am allerliebsten einen Atelierbesuch gemacht?
Caravaggio kommt ja öfter in meinem Roman vor. Aber bei ihm besteht bekanntlich die Gefahr, dass er seiner Neigung nachgibt, eine Schlägerei anzufangen. Da müsste ich mich dann verteidigen. Ich weiß nicht so recht, ob mir Kunstgeschichte je verzeihen würde, wenn ich Caravaggio ein blaues Auge schlagen müsste. Vielleicht sollte ich bei Lucian Freud bleiben. Spontan weiß ich nicht, ob ich ihn im Buch namentlich nenne, aber er gehört zu denen, die für Bear Pate standen. Er fasziniert mich als Persönlichkeit.

Was macht für Sie ein Meisterwerk aus?
Wenn Sie das herausfinden, lassen Sie es mich wissen.

Im Atelier von Bear gehören Schöpfung und Zerstörung scheinbar untrennbar zusammen. Wenn Bear zwischen Wut und Enttäuschung schwankt, zerfetzt er Leinwände oder lässt Werke in Flammen aufgehen. Kennen Sie solche Stimmungen auch aus Ihrem Alltag am Schreibtisch?
Ich verspüre oft den Drang, mein Werk zu zerstören. Es gibt in mir einen Teil, dem meine Schreibbemühungen peinlich sind. Das ist abwegig. Ich bemühe mich einerseits zu kommunizieren, andererseits scheine ich mich zu sorgen, dass andere das Ergebnis mitbekommen könnten. Vielleicht fürchte ich mich vor einer Selbstentblößung …

Bear bringt es zu einer erstaunlichen Anzahl an Kindern, aber als Familienvater scheint er nicht ganz so in seinem Element zu sein. Das Dilemma?
Er macht gern Kinder, hört sie aber ungern.

Der Originaltitel Ihres Romans lautet „The Italian Teacher“, also „Der Italienischlehrer“, und verweist auf Bears Sohn Charles alias Pinch. Was macht seine Perspektive so interessant?
Bear ist die lauteste Figur, aber ich wollte die Geschichte von jemandem erzählen, der im Schatten eines lautstarken, ja ohrenbetäubenden Charakters lebt. In meinen Büchern – wie in vielen Romanen und im Leben selbst – spielt sich mehr ab als das, was lautstark vorgebracht wird.

„Mein Buch war eine Möglichkeit, mich zu warnen …“

Was Sie schildern, könnte man nicht zuletzt interpretieren als psychologische Langzeitstudie, oder? Schwebte Ihnen so etwas vor? Etwa in der Richtung: Wie lebt es sich im Bann eines Exzentrikers?
Als ich mir überlegte, ob ich Vater werden sollte, befürchtete ich, ich könnte mein Schriftstellerleben mit einem Kind ruinieren oder – viel schlimmer – mein Kind mit einem Schriftstellerleben. Mein Buch hier war eine Möglichkeit, den Künstleregoismus zu analysieren und mich vor den schlimmsten Resultaten zu warnen.

Pinch lässt von klein auf nichts unversucht, um die Aufmerksamkeit seines Vaters zu gewinnen. Chance oder Verhängnis?
Niemand ist wohl immun dagegen, einem charmanten, charismatischen Menschen zu erliegen, mag dessen Zuneigung umgekehrt auch noch so unsicher sein. Um sie zu erringen, rennen wir dann umher wie Mäuse in einem Labyrinth, dessen Verlauf sich dauernd ändert. Das ist ein quälendes Dilemma. Es kann Jahre dauern – manchmal ein ganzes Leben – bis man sich daraus befreien kann.

Pinch entwickelt Sprachtalent – anders als sein Vater, der in seiner ganzen Zeit in Rom nicht so richtig Italienisch lernt. Sagt das nicht eigentlich auch etwas über ihr jeweiliges Interesse nach Austausch und Verständigung mit anderen?
Es gibt eine weitere Ironie: Der Vater – der nur eine Sprache spricht – redet unentwegt und wird immer bewundert. Der Sohn hingegen – der jeden Dialekt durch bloßes Zuhören lernt – findet kaum jemandem, mit dem er sich unterhalten könnte.

Inzwischen sind Sie selbst Vater eines kleinen Sohnes …
Als ich mit dem Roman hier fertig war, hatte ich meine Bedenken hinsichtlich des Vaterseins überwunden. Ich liebe meinen Jungen über alles, ich bewundere ihn. Der Kleine ist die reine Freude – und ich bin unendlich glücklich. Alles, was mich früher beunruhigte, hat sich in Luft aufgelöst. Einst fürchtete ich, wie Bear zu werden, aber das wird nie passieren.

Und wie gelingt es Ihnen, im Alltag zwischen Schreibtisch und Familie Ihren Ansprüchen an sich selbst gerecht zu werden?
Bis in die Nacht hinein arbeiten wie früher, das kann ich nicht mehr. Alle paar Jahre in ein anderes Land zu ziehen, wie ich es früher gerne tat, ist nun auch nicht mehr möglich. Das fehlt mir sehr. Aber ich arbeite immer noch hart, sonst werde ich depressiv. Ich habe jetzt andere Verantwortungen, ein anderes Leben. Das akzeptiere ich.

„Die Jagd nach Schönheit ist keine hübsche Sache.“

Pinchs Mutter Natalie, die dritte Ehefrau von Bear, hat ebenfalls künstlerische Ambitionen. Was macht Ihr die Entfaltung Ihres Talents so schwer?
Sie ist eine überragende, eigenständige Künstlerin. Aber es gibt vieles, was sie hindert. Ihr fehlt das Ego ihres Mannes, weshalb sie durch seines erdrückt wird. Zudem ist sie eine Frau, die Keramik macht – zu einer Zeit, als das eher als nettes Hobby, aber nicht so sehr als Kunst betrachtet wird. Solche dummen Ansichten gibt es immer noch. Wir stellen uns vor, dass jemand zur künstlerischen Größe avanciert, weil sie oder er ganz außergewöhnlich begabt ist. Aber es gehört weit mehr dazu: Korruption, Charme, Selbstvertrauen, Manipulation. Die Jagd nach der Schönheit ist keine hübsche Sache.

Natalies liebster Lehrer an der Kunsthandwerkschule hat sich in die Einsamkeit der Pyrenäen zurückgezogen und von seinem künstlerischen Anspruch verabschiedet: Er töpfert nun praktische Dinge wie Krüge und Tassen. Kapitulation oder wahre Weisheit?
Die Antwort hängt vom jeweiligen Menschen ab. Für manche bringt eine Karriere in der Kunstwelt die Erfüllung. Weitaus mehr Menschen werden aber durch eine solche Karriere zerstört. Im Ganzen gesehen hat der Hobbykünstler viel Spaß an der Kunst, während der hauptberufliche Künstler sich damit quält – aber wahrscheinlich am Ende das bessere Werk hervorbringt.

Wie schon in Ihrem ersten Roman „Die Unperfekten“ ist Rom einer der Hauptschauplätze. Was macht Ihre persönliche Faszination aus? Und was macht die Ewige Stadt für Sie romanreif?
Ich habe vier Jahre in Rom gelebt – und ich bin und bleibe Italien sehr eng verbunden. Ein Grund, aus dem es Menschen aus dem englischen und vermutlich auch aus dem deutschen Sprachraum so stark nach Italien zieht, ist, dass die italienische Kultur die Gefühle so direkt anspricht und im Visuellen so kühn und opulent ist – Züge, die unseren Traditionen mitunter fehlen. In Italien findet sich zudem ein Großteil der kulturellen Vergangenheit des Abendlands. Und Mozzarella di Bufala – für mich ein Hauptgrund, immer wieder nach Italien zurückzukehren.

Sie gewähren auf den Streifzügen von Bear und den anderen Romanfiguren Einblicke in römische Kirchen, beispielsweise in die Chiesa di San Luigi dei Francesi. Einfach, weil es am Weg liegt? Oder bergen beispielsweise die Bilder von Caravaggio wichtige Hinweise für Ihren Roman?
Die Reihe der Gemälde Caravaggios in dieser Kirche zeigt ein und denselben Menschen in drei verschiedenen Lebensabschnitten. Mein Buch schildert drei Lebensabschnitte der Hauptfigur Pinch. Das ergab eine passende Parallele. Außerdem ist ein vorzügliches Café in der Nähe, die Bar Sant’Eustachio, die lebenswichtig für meine Recherchen war.

„Zeitgenössische Kunst kann einem wie Satire vorkommen …“

Am Ende des Romans flanieren wir lesend durch die Tate Modern in London – mit Blick auch auf die Gegenwartskunst. Täuschen wir uns oder klingt da Satire durch, wenn Sie so die Exponate und Schwerpunkte der Ausstellung „Selfie Stick: Autofiktionen im kontemporären Kanon“ skizzieren?
Zeitgenössische Kunst kann einem bereits wie Satire vorkommen – all diese Geschichten von Hausmeistern oder Putzfrauen, die nach der Vernissage kaum unterscheiden können, was nun die Installation und was der Müll ist. So etwas macht den ganzen Mist – und die Aufmerksamkeit, die er bekommt – so frustrierend. Aber das ist unvermeidlich. Es gibt auch wunderbare zeitgenössische Kunst. Kunst ist eben nicht losgelöst von der Gesellschaft, sondern ein Produkt der Gesellschaft.

Angenommen, Geld spielt keine Rolle: Welches Werk würden Sie sich am liebsten gegenüber Ihrem Schreibtisch aufhängen?
Eine riesige Leinwand von Cy Twombly oder eine winzige Vase von Lucie Rie.