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EINE GROSSE ENTDECKUNG! Darüber sind sich bei Tom Saller seit seinem Erfolgsdebüt alle einig. „Wenn Martha tanzt“ ist eine Hommage an das junge Bauhaus um 1920, aber mehr noch an die Titelheldin und deren Vorbild, die Großmutter des Autors. Solchen Menschen mit Ausnahmetalent und innerem Kompass, dem sie unbeirrt folgen, spürt er vorzugsweise nach – auch in seinem neuen Roman: „Julius oder die Schönheit des Spiels“ ist angelehnt an die imponierende Lebensgeschichte des Gottfried von Cramm (1909-1976). Er wurde in Deutschland verfolgt, aber auch als Sportidol gefeiert, war Tennis-Weltstar und ein nobler Verlierer, dem Fairness und Anstand wichtiger waren als Siege.
Ihr Debütroman von 2018 kam hervorragend an, auch als Ouvertüre zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum 2019. Schwebte Ihnen das von Anfang an so vor oder hatten Sie womöglich eine andere Ausgangsidee?
Es hat mir niemand geglaubt, und es wird mir nie jemand glauben: Ich habe gedanklich und emotional zwei Jahre meines Lebens am Bauhaus in Weimar verbracht, weit entfernt von jedem Gedanken an ein Jubiläum. So viel zum Thema „Nichts ist schwerer zu glauben als die Wahrheit“.
Martha scheint am Anfang einer Traditionslinie von Hauptfiguren mit besonderem Charakter und Ausnahmetalent zu stehen. Welche biografischen Situationen oder historischen Umstände interessieren Sie besonders?
Eigentlich ist es vor allem die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, auch zwischen dem Einzelnen und dem System, die mich interessiert, unabhängig von Ort und Zeit. Solange ich schreibe, wird dabei das Gute gewinnen. Vermutlich ein klassischer Fall von Eskapismus.
Kein Zufall, dass Ihre Roman-Martha eine außergewöhnliche Begabung im Zusammenhang mit Musik hat, oder?
Mit sechzehn habe ich in einer Band gespielt, die, ohne es zu wissen, eine Art Punkgrunge erfunden hat. Damals habe ich ganz vorne gestanden und ausgesprochen schlecht gesungen. Mittlerweile bin ich vierundfünfzig, stehe immer noch vorne und spiele ausgesprochen schlecht Saxophon in einer Jazzcombo. Wenn Sie so wollen, hat sich nicht viel verändert.
Wie beeinflusst Sie Ihre Erfahrung als Musiker beim Schreiben?
Sprachmelodie, Satzrhythmus, Intonation, Tempo, Sound. Musik und Schreiben sind für mich nicht zu trennen.
„Worte mit gefühlter statt gespielter Musik.“
Wann haben Sie das Schreiben für sich entdeckt?
Mit sechzehn habe ich die ersten Songtexte und Gedichte geschrieben. Das eine für die Öffentlichkeit, das andere für die Stunden zu zweit. In beiden Fällen ging es darum zu beeindrucken. Songschreiber bin ich nicht geworden, dafür Schriftsteller. Anscheinend liegen mir die Worte mit gefühlter statt gespielter Musik mehr.
Mit Lebensgeschichten beschäftigen Sie sich als Psychotherapeut und als Autor intensiv. Welche Wechselwirkungen stellen Sie zwischen beiden Bereichen fest?
Das Schreiben macht mich als Therapeut besser, weil ich inzwischen meine Worte sorgfältiger wähle. Die therapeutische Arbeit macht mich als Schriftsteller besser, weil ich die Menschen genauer erkenne. Es ist die ideale Wechselwirkung zwischen schreibender und sprechender Medizin.
Teilen Sie mit dem Titelhelden Ihres neuen Romans die Begeisterung für Tennis?
Ich spiele seit fünfundvierzig Jahren mit großer Freude Tennis. Nach unzähligen Trainerstunden, zwei Kreuzbandrissen und einer Ellenbogenluxation rechts gelingt es mir inzwischen, den Ball ab und an zurückzuschlagen.
Ihr Roman-Julius hat ein berühmtes Vorbild. Wie kamen Sie auf Gottfried von Cramm?
Als begeistertem Tennisamateur ist mir Gottfried von Cramm seit vielen Jahren ein Begriff. Im Roman – und vielleicht auch in der Wirklichkeit – trifft er im wichtigsten Moment seines Lebens eine radikale Entscheidung. Das macht ihn, nicht nur in meinen Augen, sehr besonders.
„Eine radikale Entscheidung im wichtigsten Moment des Lebens.“
Was hat Julius von Gottfried, seiner Persönlichkeit und seiner Biografie mitbekommen?
Die englische Persönlichkeit: fairplay, understatement und sportsmanship. Man könnte sagen, einen Adel des Geistes.
In welchen Punkten haben Sie Julius von Gottfried abgenabelt und sich literarische Freiheiten genommen, die für eine Umbenennung sprachen?
Ich habe die komplette Kindheit und Jugend von Niedersachsen ins Rheinland verlegt, außerdem hat Julius zwei Schwestern im Gegensatz zu Gottfried, der sechs Brüder hatte. Darüber hinaus – und das hat mit Respekt zu tun – hat sich Gottfried nach meinem Kenntnisstand niemals öffentlich zu der Bisexualität bekannt, die Julius diskret lebt.
„Haltung in haltlosen Zeiten.“
Wie sehen Sie Julius als Persönlichkeit? Welche Eigenschaften und Entwicklungen sind Ihnen wichtig?
Haltung in haltlosen Zeiten. Höflichkeit im Angesicht der Barbarei.
Sie schildern nicht erst Julius‘ spektakuläre Tenniskarriere, sondern bereits seine Kindheit und Jugend. Warum liegen Ihnen diese frühen Jahre so am Herzen?
Grob vereinfacht: Nach Freud sind es die vier ersten Lebensjahre, die die Seele des Menschen prägen. Der Rest ist Feinschliff.
Wie fällt Ihre Selbstdiagnose aus? Wer oder was hat Sie am meisten weitergebracht, um Ihre Talente zu entdecken und Ihren persönlichen Weg im Leben zu finden?
Meine Frau, meine Frau, meine Frau. Meine Söhne, meine Söhne, meine Söhne. Meine Englischlehrerin Frau B. und mein Musiklehrer Herr J. Einige wenige gute Freunde, die schamhaft erröten würden, wenn ich sie hier namentlich erwähnte. Und mein Beruf als Psychiater und Psychotherapeut, der mir täglich zeigt, dass die wahrhaft Verrückten ganz bestimmt nicht in meiner Praxis anzutreffen sind.
Was macht Julius für Sie zum Ausnahmephänomen? Welche Stärken und Defizite werden schicksalhaft?
Um aus dem Roman zu zitieren: „Es war, als hätte ein Engel sein Spiel geküsst.“ Wie hoch ist die Überlebenschance eines Engels im Nationalsozialismus? Wie hoch ist die Überlebenschance eines Engels heutzutage?
„Das Gegenteil von Snobs und Wichtigtuern.“
Worauf kam es Ihnen an, als Sie den Mikrokosmos erschufen, in dem Julius von Berg aufwächst?
Dass Julius trotz seiner privilegierten Herkunft geerdet und bodenständig bleibt. Großvater, Mutter, Vater und Schwestern und später Julie – sie alle sind das Gegenteil von Snobs und Wichtigtuern.
Besondere Bedeutung scheinen Sie Julius‘ Großvater mütterlicherseits zuzuschreiben. Wie sehen Sie ihn und seine Rolle?
Er ist Julius´ Obi-Wan Kenobi und Julius´ Tennisschläger ist sein Lichtschwert im Kampf gegen die Nazis.
„Der Rhein: ein Vergrößerungsglas deutscher Geschichte …“
Geografisch verorten Sie Julius‘ Herkunft am Mittelrhein, zwischen Bingen und Koblenz. Was macht diese Region für Sie persönlich und literarisch reizvoll?
Der Rhein ist ein Vergrößerungsglas deutscher Geschichte: Mythologie, Romantik, Territorialpolitik. Seit Jahrhunderten fokussieren sich hier die Ängste und Sehnsüchte der Deutschen.
Stichwort „Rheinische Republik“: Was hat Sie an diesem Intermezzo in punkto Geschichtsverständnis und Heimatgefühl interessiert?
Zum einen, dass ich nichts davon wusste. Zum anderen die klare Abkehr vom preußischen Militarismus.
Julius´ Großvater väterlicherseits hat die Familie als „Rheinkiesel“ bezeichnet. Welche Symbolik steckt für Sie in diesem poetisch anmutenden Vergleich und welche persönliche Bedeutung hat er?
Um ehrlich zu sein, habe ich dabei – ein wenig aus dem Zusammenhang gerissen – an Bob Dylan gedacht: „How does it feel? To be on your own …?“
„Kein Kiesel, ein Diamant!“
Kiesel werden in der Strömung allmählich geschliffen. Inwiefern trifft das auf Julius zu?
Kein Kiesel, ein Diamant. Geschliffen und ungeschliffen zugleich.
Welche Werte würden Sie als Leitsterne für Julius bezeichnen?
Respekt, Anstand, Höflichkeit und Humor.
Ungefähr in der Mitte des Romans stellt Julius beglückt fest, dass er in der Tenniswelt und der dazugehörigen Gesellschaft seinen Platz gefunden hat. Wie war es tatsächlich bestellt um Fairplay und Solidarität unter Sportsfreunden?
Der Mensch und Sportsmann Gottfried von Cramm ist heute noch ein Synonym für Fairplay und Solidarität.
Während des Nationalsozialismus bewegt sich Julius auf einem schmalen Grat. Was wollten Sie an seiner immer bedrohlicheren Situation ergründen?
Den Blick des Träumers, der sich schlicht nicht vorzustellen vermag, wie sehr Menschen auf ihren Vorteil bedacht sein können.
„Wahre Schönheit ist nie perfekt.“
Beim Lesen gewinnt man immer mehr den Eindruck, dass Ihr Verständnis von Schönheit weit über das auf den ersten Blick Sichtbare hinausreicht. Wie definieren Sie Schönheit?
Wahre Schönheit ist nicht beabsichtigt und nie perfekt.
Sein Studium und erst recht seine Tenniskarriere führen Julius hinaus in die Welt. Welche Schauplätze haben Sie besucht und wo haben sie die eindrucksvollsten Entdeckungen gemacht?
Es ist unmöglich, in das Berlin oder an die Côte d´Azur der Dreißiger zu reisen. Folglich habe ich diese Orte in Gedanken besucht. Ich darf jeden Leser und jede Leserin zu dieser Reise einladen.
Was hat Sie beim Recherchieren und Schreiben am meisten bewegt?
Die Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit Gottfried von Cramms. Obwohl er in der Öffentlichkeit eine der Persönlichkeiten seiner Zeit war, hat er sich nie in den Mittelpunkt gestellt. Im Gegenteil, er hatte stets den Blick für den Mitspieler.
Was haben Sie für sich persönlich und für das Hier und Jetzt aus den Lebensgeschichten von Julius und Gottfried mitgenommen?
Julius und Gottfried spielen Tennis, nicht primär, um zu gewinnen, sondern um der Schönheit des Spiels wegen. Ich schreibe Bücher, nicht primär, um sie zu veröffentlichen, sondern um der Schönheit der Sprache willen.