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SO SUSPEKT SIE einander seit ihrer ersten Begegnung 1958 waren, so genau spürten beide, dass vom anderen noch viel zu erwarten war: Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki – der Schriftsteller und sein wortgewaltigster Kritiker. Seit dem „Blechtrommel“-Verriss ziemlich beste Feinde, prägten sie 50 Jahre lang als Duo die deutsche Literatur und profilierten sich – einer auf Kosten des anderen. Nahezu logisch, dass der hervorragende Literaturexperte Volker Weidermann die Rivalen in einem Doppelporträt gegenüberstellt: „Das Duell“ zwischen Eklat und Schweigen.
Fernsehbekannt sind Sie als Leiter des „Literarischen Quartetts“. Die Sendung hat einen berühmt-berüchtigten Vorläufer. Worin bestehen für Sie die Gemeinsamkeiten? Und worin die gravierenden Unterschiede?
In Marcel Reich-Ranickis Leben spielte die Literatur eine existenzielle Rolle. Ob eine Geschichte langweilig ist oder nicht, war für ihn, der als Erzähler von Geschichten im Verborgenen das Warschauer Ghetto überlebte, eine Frage von Leben und Tod. Das Echo dieser Zeit hat sein ganzes weiteres Leben bestimmt. Man hat das in seinen Texten und später im Fernsehen immer spüren können: Die Unterhaltsamkeit von Literatur war eine Frage von „alles oder nichts“. Diese Leidenschaft in der Ablehnung und in der Begeisterung – war in jedem Moment spürbar. Das machte seine enorme Popularität aus. Außerdem war er natürlich: streitsüchtig. Angriffslustig. Laut. Ich bin ja in vielem das Gegenteil von ihm. Eher leise, ausgleichend, leidenschaftlich eher im Loben als im Verreißen.
Wie deuten Sie Ihre Rolle heute? Als Leiter des Quartetts und als Literaturvermittler allgemein?
Es gilt ja, Literatur überhaupt wieder stärker in den gesellschaftlichen Debatten zu verankern. Ihr wieder eine stärkere Rolle in dem großen, erhitzten, gereizten Durcheinandergerede unserer Zeit zu geben. Literatur als erhellende, bereichernde, ordnende, stärkende, gesellschaftlich enorm relevante Kraft wieder ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Und natürlich: zu unterhalten.
Sie brauchten nicht einmal einen Enthüllungsroman zu schreiben, sondern Ihr Buch „Lichtjahre“ reichte einst, um eine Debatte zu entfachen. Können Sie sich darauf einen Reim machen?
Ich glaube, es war die Leidenschaft, die die Gegner damals verschreckte. Als Kampfbegriff wurde ja das Wort „Emphatiker“ gegen mich ins Feld geführt. Das fand ich sehr lustig. Es bedeutet ja nichts anderes als Leidenschaft und Deutlichkeit – für nichts anderes bin ich angetreten. Und das empfanden manche graue, arrivierte, verschlafene Kritiker als Angriff auf ihren Berufsstand. Mich hat’s gefreut. Viele Leser auch.
„Unverrückbar in ihren Überzeugungen“
Für ganz andere Schlagzeilen haben die beiden gesorgt, die im Mittelpunkt Ihres neuen Buches stehen: Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki – für Eingeweihte: GG und MRR. Sind Ihnen die zwei eigentlich während der Arbeit an Ihrem Buch näher gekommen und vertrauter, vielleicht sogar verständlicher geworden?
Wenn Sie einem Menschen nahe kommen wollen, müssen Sie ein Buch über ihn schreiben. Man versteht so vieles. Auch das vorher Unverständlichste. Vor allem Grass ging uns ja allen in den letzten Jahren mit seiner Rechthaberei, seinen immer gleichen Statements enorm auf die Nerven. Aber auch er ist mir – durch diesen Kampf, den er ein Leben lang mit sich selber focht, ja oft gegen sich selber, beinahe ans Herz gewachsen. Er hatte ja dieses SS-Geheimnis ein Leben lang tief in sich verschüttet. Das galt es zu bewahren – und in Literatur und in politischen Kampf zu verwandeln. Psychologisch, menschlich, politisch fand ich das hochinteressant.
Rüdiger Safranski sagte sinngemäß zur Arbeit an seiner Goethe-Biografie, bei so großen Persönlichkeiten des Kulturlebens müsse man erst einmal den Mehltau der Meinungen wegpusten. Wie erging es Ihnen denn in diesem Punkt bei Grass und Reich-Ranicki?
Klar. Die beiden sind ja so kurz nach ihrem Tod längst ein Beton-Monument. Unverrückbar in ihren Überzeugungen, ihrer Gegnerschaft. Das mit einem lebendigen Buch abzustauben und unter dem Beton etwas rosa Haut, Blut, ein Herz oder zwei hervorscheinen zu lassen – das macht Spaß. Und belebt auch beim Schreiben schon.
„Literaturschöpfer als literarischer Stoff“
Was war für Sie das Reizvolle an der Konstellation Grass/Reich-Ranicki?
Durch sie ging das ganze verfluchte deutsche Jahrhundert hindurch. Und zwar im entscheidenden Moment auf der entgegengesetzten Seite. Der Seite der Massenmörder. Der Seite der Opfer. SS-Mann und Jude. Und die beiden dominierten dann in ihrem Zweikampf die deutsche Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte. Praktisch ohne je konkret über den Urgrund der Feindschaft zu sprechen. Das sind –Literaturschöpfer als literarischer Stoff.
„Ein seltsames Paar“ titelte 2009 Ihr „Spiegel“-Kollege Volker Hage, Grass selbst bezeichnete das Verhältnis zwischen sich und Reich-Ranicki als „Zwangsehe“. Wie würden Sie es schlagwortartig definieren?
Sie haben auf dem Papier den Jahrhundertkrieg nachgestellt, ein Leben lang. Sie waren aber vor allem auch: unterhaltsam. Witzig. In ihrer totalen Fixierung aufeinander. Wie Tom und Jerry. Oder noch besser: Obelix und die Römer. Grass – immer wieder einen neuen Roman vorlegend, auf Lob des Meisters hoffend – und der immer wieder mithilfe des Zaubertranks: Bämm. Bämm. Bämm.
Schon von der ersten Begegnung 1958 (!) im Warschauer Hotel Bristol kursieren verschiedene Versionen von beiden. Was stand da zwischen den zwei Männern?
Sie kamen beide aus ihren feindlichen Vergangenheiten. Dann war der eine betrunken, wollüstig, angriffslustig, mitten im Schreiben seines Weltromans. Der andere stand kurz vor der Flucht, ängstlich, voller Ehrfurcht vor der deutschen Literatur. Will über Thomas Mann reden – und dann kommt da dieser betrunkene „Zigeuner“, wie Reich-Ranicki dachte, redet über einen Zwerg in einer Irrenanstalt und hat von Thomas Mann keine Ahnung. Fantastisches Missverstehen von der ersten Sekunde an.
„Ihre Arena war die Gruppe 47“
Wann begann die Liaison so richtig?
Es begann sofort, 1958, nach der Flucht Reich-Ranickis in die BRD. Ihre Arena war die Gruppe 47. Am 1.1.1960 verriss Reich-Ranicki mit enormer Wucht die „Blechtrommel“ – im Gegensatz zur gesamten deutschen Literaturkritik. Er wusste: Um gehört zu werden, um selber groß zu werden, brauchte er einen großen Gegner. Und er spürte von Beginn an: Der größte, das ist Er.
Tatsächlich verdankt Reich-Ranicki Grass einige seiner ganz großen Auftritte, oder? Zumindest bot ihm Grass’ „Blechtrommel“ 1960 die öffentlichkeitswirksame Gelegenheit, mit seiner Kritik an dem gefeierten Werk ebenfalls ins Rampenlicht zu treten. Ein Abhängigkeitsverhältnis? Eine Hass-Liebe?
Sie waren voneinander geradezu abhängig. Sie profitierten beide voneinander. Reich-Ranicki brauchte einen riesenhaften Gegner, um selbst als Riese zu erscheinen. Und auch Grass schrieb noch in seinem letzten Text über den Kritiker von ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Der Verriss auf dem Titel des „Spiegel“ war die größte mögliche Werbung, die sich ein Roman nur wünschen konnte. 100.000 Bücher wurden noch am selben Tag von dem Roman verkauft.
Das Ganze eskalierte 1995, als Reich-Ranicki seinen legendären Verriss zu Grass’ „Ein weites Feld“ veröffentlichte. Was daran ist für Sie typisch Reich-Ranicki?
Er schrieb stets in Superlativen. Und die Spannung der Texte entstand dadurch, dass er die gegensätzlichen Superlative mit voller Wucht aufeinanderschoss: Der größte Meister deutscher Sprache hat das schlechteste Buch der Geschichte geschrieben. Wie konnte das passieren? Eine – ernst genommen – völlig abstruse Übertreibungskunst. Seine Meisterschaft bestand dann darin, das Ganze auch noch plausibel wirken zu lassen. Unterhaltsam und maximal laut war es sowieso.
Bevor wir uns Fontanes posthumer Instrumentalisierung als Reich-Ranickis Sekundant widmen: Was schätzen Sie an Fontane?
Ist es nicht verrückt, heute Bücher wie „Effi Briest“, „Der Stechlin“ oder „Irrungen, Wirrungen“ zu lesen? Bücher aus einer so fernen Vergangenheit, dass sie kaum noch vorstellbar ist? Doch die Menschen darin, ihr Leiden, ihre Liebe, ihre Einsamkeit – das ist herzzerreißend heutig. Ich glaube, dass Fontane erstens ein unglaublich weiser, warmer Seelenkenner war. Und zweitens ein eminent politischer Mensch, ohne je ein Parteigänger zu sein. Er verstand alles und verschrieb sich nie einer Sache. Er war Revolutionär und Reaktionär zugleich. Er konnte die Welt im selben Augenblick von allen Seiten sehen. Für solche Meister ist der Roman einst erfunden worden.
Was ging damals eigentlich mit Reich-Ranicki durch, Fontane vor seinen Argumentationskarren zu spannen?
Haha. Sehr lustig. Was ging denn mit Günter Grass durch, uns einen lächerlichen Pappkameraden namens Fonty als unglaubwürdigen Wiedergänger des alten Fontane zu präsentieren? Und ihn auch noch als Ideologen und Rechthaber Grassscher Manier auftreten zu lassen – das war nun wirklich die Vergewaltigung einer großen literarischen Figur.
„Literatur als Lebens-Ersatz“
Trotz der Differenzen: Grass und Reich-Ranicki hatten auch Gemeinsamkeiten. Was erscheint Ihnen da besonders bemerkenswert?
Diese unbändige Liebe zur Literatur zunächst. Literatur als Lebens-Ersatz bei gleichzeitiger Sehnsucht nach dem wirklichen Leben. Dem nicht aus Papier. Dazu das Wissen um die enorme gesellschaftliche Bedeutung von Literatur. Die welt- und lebensverändernde Kraft. Vor allem aber: ihrer beider Größenwahn. Ihr Riesen-Ego. Ihre Liebe zur Macht.Ihre Eitelkeit.
Was machte die beiden zu kleinen Peer Gynts?
Die abgöttische Liebe zur Mutter, deren Welt schuldlos in Bankrott und Niedergang mündete. Und für diese Mütter, die beide Helene hießen, errichteten sie jeweils ein Traumreich des Ruhms, des Glücks und Erfolgs. Die Gegenwelt der Fantasie.
Was ist das Interessante an der Lektüre, als die beiden das Lesen für sich entdecken?
Dem kleinen Günter hat die Mutter mal beim Essen ein Stück Seife in die Hand gesteckt, als er wieder mal so vertieft las. Das hat er erst ein paar Bissen später bemerkt. Reich-Ranicki wurde früh durch einen Halbsatz aus „Madame Bovary“ erschüttert: „In Gedanken entkleidete er sie.“ Der hat sich ihm für immer eingeprägt, schrieb er in seiner Autobiografie.
Grass war ein begeisterter Tänzer, Reich-Ranicki bedauerte, nie das Tanzen gelernt zu haben. Wie typisch ist das jeweils?
Grass gehörte von Anfang an mühelos zur deutschen Gesellschaft dazu, war Teil des bundesrepublikanischen Tanzvergnügens. Reich-Ranicki nie. Er hat sich den Platz mit aller Macht und Mühe erkämpfen müssen. Nie gab es in seinem Leben mühelose, sorglos tänzerische Momente.
Musik mochten beide. Wie klänge der Soundtrack für „Das Duell“?
Free Jazz für Grass. Wagner für Reich-Ranicki. Ausgerechnet Wagner. Ausgerechnet die „Meistersinger von Nürnberg“. Aber die Liebe fällt, wohin sie will …
„Außenseiter – noch im größten Ruhm“
Bei bestimmten Äußerungen Reich-Ranickis erfasst einen Wehmut, manchmal auch Traurigkeit, beispielsweise wenn der betagte Reich-Ranicki 2010, der bei der Verleihung des Börne-Preises stehenden Beifall bekommt, immer noch feststellt: „Ich bin ein Außenseiter!“ Wie ist das einzuordnen?
Er ist es ein Leben lag gewesen. Noch im größten Ruhm. Er hatte nur sehr wenige Freunde. Und hatte keine Heimat. „Die Zeit“, bei der er dreizehn Jahre arbeitete, lud ihn zu keiner Konferenz. Nicht zu einer. Die „Gruppe 47“ wollte ihn schon nach drei Besuchen wieder rauswerfen. In der „FAZ“ wurde er von seinem Chef, Joachim Fest, mit einer Buchparty begrüßt, bei der Hitlers Stellvertreter Albert Speer eingeladen war. Auch als ich ihn in seinen späten Jahren öfter besuchte, war mein stärkster Eindruck: Einsamkeit. Umrauscht vom Ruhm und Glanz. Aber nie auf festem Grund. Nie ausgelassen unter alten Lebensfreunden. Er hatte das Schlimmste erlebt, was ein Mensch erleben kann. Es gibt danach keine Selbstverständlichkeiten mehr. Keine Sorglosigkeit. Kein Vertrauen.
In Ihrem Buch „Dichter treffen“ haben Sie im Prolog über die perfekte Einstiegsfrage sinniert. Wie hätten Sie die im Fall Reich-Ranicki formuliert?
„Was gibt es Neues?“ Das war immer, immer – jeden Tag – seine Lieblingsfrage. Jedes Gespräch, jedes Telefonat begann damit …
Und bei Grass?
Heute schon die Welt gerettet? Heute schon Recht gehabt?
Sie haben ein Faible für Besuche bei Autorinnen und Autoren. Was wäre – mit Ausnahme von Pfeifentabak – Ihr Gastgeschenk für Grass gewesen?
Hm. Die Schreibmaschine, auf der MRR die Lobeshymne auf Grass’ Novelle „Das Treffen in Telgte“ schrieb?
Und für Reich-Ranicki?
Er sagte immer „Rotwein“. Beim Weinhändler bei ihm um die Ecke konnte man immer seinen liebsten Wein kaufen. Der Weinhändler wusste Bescheid. In Wahrheit hat er eigentlich kaum Wein getrunken. Es war vielleicht nur eine lustige Idee. Vielleicht wollte er auch dem sympatischen Weinhändler ein gutes Geschäft verschaffen. Von Grass wollte er ja immer von ihn hergestellte Graphiken haben. Dichter-Porträts zu sammeln, war ja seine Leidenschaft. Und auf dem Feld konnte er Grass gefahrlos loben – ohne ein gutes Wort über seine Bücher zu riskieren.
„… eine Geschichte des Schweigens“
Rund um das wohl wichtigste Duo der deutschen Nachkriegsliteratur entwerfen Sie ein Kultur- und Gesellschaftspanorama. Was sind für Sie die markantesten Entwicklungen?
Für mich war es am Ende vor allem eine Geschichte des Schweigens. Es ist so unglaublich viel und so laut geschwiegen worden in diesen sechzig Jahren nach dem Kriegsende in Deutschland. Niemand fragte Reich-Ranicki, wie er als Jude eigentlich überlebt hatte. Er selbst erzählte es lange nicht. Wollte nicht stören. Erzählte auch niemandem von seiner hochrangigen Tätigkeit beim polnischen Geheimdienst. Und Günter Grass – war ein Leben lang damit beschäftigt, andere auf ihre verschwiegene Vergangenheit hinzuweisen. Und schwieg all die Jahre über seine eigene. Das ganze Land war in diesem Schweigen gefangen. Das Schweigen der beiden war das Schweigen von Tätern und Opfern. Und das wurde mit größtmöglicher Lautstärke übertönt.
Welche Lektüre empfehlen Sie?
Von Grass: „Die Blechtrommel“, „Tagebuch einer Schnecke“, „Hundejahre“, „Gleisdreieck“, „Vonne Endlichkait“. Von Reich-Ranicki: „Nachprüfung“, „Über Ruhestörer“, „Thomas Mann und die Seinen“, „Mein Leben“.