ROMANE ZU SCHREIBEN ist für Ayelet Gundar-Goshen wie auf einem Drachen reiten. Dessen Fauchen trotzt Israels Ausnahmetalent seit dem preisgekrönten Debüt „Eine Nacht, Markowitz“. Die Schriftstellerin und Psychotherapeutin (u.a. in einer geschlossenen Jugendabteilung) reiht einen Erfolg an den anderen. Ihr zweites Buch „Löwen wecken“, wurde zum internationalen Bestseller, der gerade verfilmt wird. In ihrem aktuellen Roman „Wo der Wolf lauert“ nimmt sie es mutig mit eigenen Ängsten als Mutter und mit existenziellen Fragen auf. Ihr Meisterwerk ist ein doppelter Glücksfall: durch die Autorin und ihre deutsche Stimme Ruth Achlama, der wir für die Übersetzung unseres Interviews danken.

Sie sind in Personalunion Mutter einer Tochter und eines Sohnes, Psychologin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Wie schaffen Sie es, all das zu vereinen? Wie sieht ein durchschnittlicher Tag von Ihnen aus?
Ehrlich gesagt, schaffe ich nicht alles. Immer bleibt etwas außen vor. Mal komme ich nicht zum Schreiben, weil ich bei den Kindern bin, und dann fühle ich mich schuldig gegenüber der Literatur. Und mal bin ich ins Schreiben vertieft oder auf Lesereise mit einem neuen Buch, und dann fühle ich mich schuldig gegenüber meinen Kindern. Das ist wohl unvermeidlich, wenn man Mutter ist: Man fühlt sich immer schuldig für irgendetwas.

Sie haben einmal erzählt, dass Sie Ihre Geburt als Geschichtenerzählerin in der Schule hatten. Wie kam es dazu?
Als Kind ging ich sehr flexibel mit der Wahrheit um. Zu flexibel. In der Grundschule in Tel Aviv erzählte ich, als die anderen Kinder ihre Schoa-Großeltern mitbrachten, meine Oma – die nie in der Schoa gewesen war –, hätte eigenhändig zwei Nazi-Soldaten umgebracht. Als sie es erfuhr, war sie mir sehr böse. Aber kurz danach schenkte sie mir mein erstes Schreibheft.

Wann und wie haben Sie das Schreiben und ihre Freude oder Faszination daran entdeckt?
Als ich mit sechs Jahren Der König von Narnia bzw. Die Abenteuer im Wandschrank: Der Löwe und die Hexe las. Das kleine Mädchen in dem Buch kommt durch einen Kleiderschrank in ein verschneites Wunderland. In Tel Aviv schneit es nie, und in diesem Buch kam ich zum ersten Mal mit Schnee in Berührung. Ich hatte das Gefühl, das Lesen sei selbst ein Wunderschrank, durch den man in andere, wundersame Länder gelangen konnte. Kurz danach begann ich zu schreiben.

Vor Ihrer literarischen Karriere haben Sie in Tel Aviv Psychologie und in Jerusalem Film und Drehbuch studiert. Wie kam es zu dieser Kombination?
Ich habe Filmkunst aus demselben Grund wie Psychologie studiert – in dem starken Verlangen, intellektuell tief in diese Sache einzudringen, die „menschlich sein“ bedeutet. Es gab Dinge an mir selbst, die ich nicht verstand, bis ich sie auf der großen Leinwand an anderen sah. Mir scheint, wir greifen zu Geschichten – Literatur und Kino – um unsere Umwelt besser zu verstehen, aber vor allem uns selbst.

2012 wurden Sie bei der Berlinale mit dem „Berlin Today Award“ ausgezeichnet. In Ihrem preisgekrönten Kurzfilm „Batman at the Checkpoint“ spielen die Hauptrollen zwei siebenjährige Jungs. Welche Hoffnung verbinden Sie mit Kindern?
Mein Sohn wird bald fünf. Er weiß noch nicht, dass er „Jude“ ist, oder „Israeli“. Und er weiß nicht, dass unweit von ihm palästinensische Kinder wohnen, die angeblich seine Feinde sind. Die Erwachsenen im Nahen Osten hüllen sich in ihre Nationalität wie in Totenschleier, aber die Kinder haben ein paar Gnadenjahre, bevor ihnen das übergestreift wird.

„Das Beste, was je jemand für mich getan hat.“

Bei Ihrer Entwicklung zur Schriftstellerin scheint Eshkol Nevo besondere Bedeutung zu haben. Worin besteht sein Verdienst als Mentor?
Eshkol Nevo hat mich an der Filmakademie unterrichtet. Am Ende des Jahres nahm er mich beiseite und sagte mir, ich müsse einen Roman schreiben. Ich sagte, ich hätte Angst. Er fragte, was mehr Angst einjage – probieren und scheitern oder mein ganzes Leben in dem Wissen leben, dass ich nicht den Mut aufgebracht hatte, das auszuprobieren, was ich am liebsten mache. Das war das Beste, was je jemand für mich getan hat.

Schon Ihr erster Roman „Eine Nacht, Markowitz“ war ein enormer Erfolg und brachte Ihnen unter anderem den Sapir-Preis ein. Welchen Stellenwert hatte diese Auszeichnung für Sie?
Israel ist kein glamouröses Land. Es gibt bei uns keine roten Teppiche wie bei amerikanischen Festakten, und zur Verleihung des Sapir-Debüt-Preises kam ich mit dem Fahrrad. Aber obwohl dieser Preis nichts Glanzvolles hat, hatte er für mich Bedeutung, denn ich sah bei der Feier die strahlenden Gesichter meiner Eltern und das meiner Großmutter, die bald darauf starb.

Wie haben Ihre Erfahrungen als Psychologin Ihr Menschenbild und Ihre Sicht auf zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst? Was ist Ihre wichtigste Lektion in diesem Zusammenhang?
Demut. Wir urteilen vorschnell über andere Menschen, obwohl wir tatsächlich herzlich wenig darüber wissen, wie sie so geworden sind, wie sie sind. Wir wollen Gewissheit haben, und in diesem Drang sind wir überzeugt von Wahrheiten, die in Wirklichkeit gar keine Wahrheiten sind, sondern ein Haufen eigener Annahmen und Folgerungen über unsere Umwelt und unsere Mitmenschen.

„Dieselbe Frage: Warum?“

Welche Wechselwirkungen stellen Sie zwischen der Psychotherapie und dem Schreiben fest? Wie beeinflusst und befruchtet das eine das andere?
Literatur und Psychologie basieren auf derselben Frage: Warum? Der Schriftsteller und der Psychologe betrachten die Welt mit fragenden Augen. Statt Menschen nach ihren Taten zu beurteilen, versuchen wir zu verstehen, was sie ursprünglich zu dem gemacht hat, der sie sind. Wie in der Gedichtzeile von Jehuda Amichai, „auch die Faust war mal eine offene Hand und Finger“, betrachten der Schriftsteller und der Psychologe die Faust. Statt sie zu verdammen oder zu fürchten, fragen sie: Was hat diese Finger dazu veranlasst, sich zur Faust zu ballen?

Ob „Eine Nacht, Markowitz“, „Lügnerin“ oder „Löwen wecken“: Sie sagen, die Geschichten wurden Ihnen zugetragen. Wie ist das zu verstehen und warum haben Sie unter all dem, was Sie zu hören bekamen, ausgerechnet aus diesen Geschichten Romane gemacht?
Das ist eine ausgezeichnete Frage, denn wir begegnen ja ständig wahren Geschichten, aber nicht aus jeder entsteht ein Roman. Damit ein Roman daraus wird, muss die Geschichte mich verfolgen, muss die darin enthaltene Wahrheit über den spezifischen Fall hinausgehen, sich in ein universales Problem verwandeln, bei dem ich meine, es ließe sich nur durch schriftliche Verarbeitung erforschen. Bei der Lügnerin begann der Roman mit einer Geschichte, die ich von einer Freundin gehört hatte, über eine Frau, die ein nicht begangenes Sexualvergehen erfunden hatte. Wegen des allgemeinen Hasses auf die Frau wollte ich dem seelischen Mechanismus der Lüge auf den Grund gehen. Löwen wecken entstand aus meiner Begegnung mit einem jungen Israeli, der nach einem Unfall Fahrerflucht begangen hatte, und meinem Wunsch zu verstehen, was einen normalen Menschen veranlassen kann, einen Verletzten liegenzulassen und weiterzufahren. In Eine Nacht, Markowitz verarbeitete ich eine historische Begebenheit, die den ganzen Gründungsmythos des jüdischen Staates unterlief, eine Geschichte über eine schreckliche Verwirrung zwischen Verlangen und Obsession. In all diesen Fällen nötigte mich die Geschichte, sie aufzuschreiben, ließ nicht von mir ab.

Und was war der erste Ideenfunke oder der Ausgangsgedanke Ihres neuen Romans „Wo der Wolf lauert“?
Eine Mutter betrachtet ihr Neugeborenes. Sie blickt auf die winzigen Fingerchen und weiß, dass sie eines Tages die Finger eines Mannes sein werden. Was wird der Junge mit seinen Fingern anfangen, wenn er groß geworden ist? Wird er damit etwas bauen, Klavier spielen, Gleichungen schreiben – oder sie benutzen, um jemanden umzubringen? Als Mutter verblüffte mich die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, zu welchem Typ Mensch das Kind, das meinem Leib entschlüpft ist, heranwachsen wird. Seine Zukunft steht in den Sternen. Ich kann natürlich auf den Jungen einwirken, mit meiner Liebe und mit der Erziehung, die ich ihm zukommen lasse, aber meine Kontrolle ist nicht so umfassend, wie ich gern meinen würde. Diese Spannung zwischen der enormen Nähe, die man als Elternteil zu seinem Kind hat, und dem wachsenden Abstand zwischen Eltern und Kind, je mehr es heranwächst – das setzte die Arbeit an Wo der Wolf lauert in Gang.

„Die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit.“

Wie im Roman Lilach Schuster, ihr Ehemann Michael und ihr Sohn Adam haben auch Sie mit Ihrer Familie einige Zeit in Kalifornien gelebt. Was zog Sie in die USA?
Die University of San Francisco lud mich als Gastschriftstellerin ein, und ich nahm das Angebot sofort an. Amerika ist weit mehr als ein geografischer Ort, Amerika ist ein Symbol, und Symbole haben mich schon immer fasziniert. Die israelische Kultur ist stark von der amerikanischen Kultur beeinflusst. Wir hören amerikanische Bands, kaufen amerikanische Labels, und wenn wir uns lieben, nennen wir es – auf Hebräisch – nicht „Liebe machen“, sondern „Sex“. In der amerikanischen Mythologie nimmt Kalifornien einen Spitzenplatz ein. Hier werden die Träume produziert, verpackt und an die übrige Welt verkauft. Der Goldrausch der Wildwest-Zeiten hat sich in den Boom im Silicon Valley verwandelt. Die Wahrzeichen Kaliforniens sind dermaßen ins Bewusstsein unserer Gesellschaft eingegangen, dass auch jemand, der noch nie in Los Angeles gewesen ist, einem das berühmte Bild von Chinatown oder dem Sunset Boulevard beschreiben kann. Die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit hat mich immer gefesselt. Ich wollte wissen, was mit einem geschieht, wenn man in ein Labyrinth von Sinnbildern übersiedelt. Genau das passiert der Protagonistin von Wo der Wolf lauert, und in gewisser Hinsicht ist das auch mir passiert.

Gab es auch etwas in Israel, das Sie hinter sich lassen wollten?
Die israelische Politik. Der Amerikaaufenthalt schenkte mir einige Monate, ohne dass Bibi Netanjahu (d.Red. Benjamin Netanyahu) mich von jedem Zeitungskiosk anblickte. Zwar sah ich stattdessen Trump – auch kein großes Vergnügen –, aber Trump ist das Problem anderer Leute, und Bibi ist meines. Ein bisschen Distanz war schön.

Was haben Sie als typisch amerikanisch erlebt? Mit welchen Stichworten würden Sie das amerikanische Lebensgefühl beschreiben?
Zwei Wörter umschreiben aus meiner Sicht die amerikanische Lebensweise: Amazing ist vielleicht das Wort, das ich in den USA am häufigsten gehört habe. Als wir in Kalifornien wohnten, sagten mir Verkäuferinnen im Laden, das Kleid sehe amazing an mir aus, Teilnehmer an Treffen fanden meine Ideen amazing, und zu meiner Freude hielten die Kindergärtnerinnen meine Kinder für einfach amazing. Meine Zeit in Kalifornien war zweifellos die „erstaunlichste“ meines Lebens. Aber Menschen, deren Leben tatsächlich amazing ist, schreiben keine Bücher. Literatur entsteht aus Unbehagen. Ein weiteres Wort, das für mich das amerikanische Paradox bezeichnet, ist f**k. Israelis sagen und schreiben das Wort fuck alle Augenblicke – wir sahen es in amerikanischen Filmen und Fernsehserien, und da alles, was aus Amerika kommt, für toll gehalten wird, haben wir das Fuck nach Israel importiert. Doch als wir in Kalifornien ankamen, entdeckte ich, dass man in Amerika, der Heimat des „Fuck“, nicht fuck sagen darf, sondern nur f**k. Das hat mich immer wieder gefesselt, wie ein Land, in dem man sich einerseits obsessiv und extrem mit Sex und Gewalt beschäftigt, andererseits derart puritanisch und frömmelnd sein kann.

„Riesenunterschiede zwischen beiden Kulturen.“

Was haben Sie als die größten Unterschiede zwischen dem amerikanischen und israelischen Lebensgefühl und der jeweiligen Mentalität empfunden?
Es gibt im Hebräischen ein Wort – chuzpa (Chuzpe) – das im Englischen keine genaue Entsprechung hat. Es bezeichnet die Weigerung, sich an Regeln zu halten, was in der israelischen Kultur mit Kühnheit verbunden wird und oft positiv besetzt ist, während die israelische Chuzpe in Amerika eine gesellschaftlich geächtete Verhaltensweise ist. Das englische Wort tact hat im Hebräischen keine Entsprechung, und das nicht von ungefähr: Israelis sind die taktlosesten Menschen der Welt. Wir werten Takt als Heuchelei und – noch schlimmer – als Zeitverschwendung, während es für die Amerikaner zur Lebensweise gehört. Im Hebräischen gibt es kein Wort für „Smalltalk“ – entweder redet man geradeheraus über alles, oder man redet gar nicht. Es gibt also Riesenunterschiede zwischen den beiden Kulturen. Als ich nach Amerika kam, dachte ich, ich würde dort leicht zurechtkommen, weil ich gut Englisch spreche. Aber ich spreche nicht Amerikanisch, und deshalb machte ich schreckliche Fehler.

Was löst bei Ihnen in Israel ein Gefühl von Heimat aus? Woran machen Sie Heimatgefühle fest?
Mir scheint, erst fern des Landes, in dem man aufgewachsen ist, erkennt man dessen spezifische Konturen. Es ist ein bisschen so wie bei einem Gemälde im Museum: Erst wenn man ein paar Schritte zurückgeht, bekommt man die richtige Perspektive. Bei jeder Rückkehr von einem längeren Auslandsaufenthalt begreife ich, wie sehr ich mich nach der Mittelmeersonne gesehnt habe, nach dem besonderen Duft eines mediterranen Gehölzes, dem Geschmack von Gemüse und Obst und Olivenöl, nach der hebräischen Sprache, in die ich hineingeboren bin. Lilach, die Heldin von Wo der Wolf lauert, würde mir darin nicht zustimmen. Sie sagt, sie liebe Israel „wie eine misshandelte Frau den prügelnden Ehemann liebt.“

Wie würden Sie die aktuelle Lage in Israel auf den Punkt bringen?
Das Verrückteste an dem israelischen Wahnsinn ist für mich, dass ihn in Israel alle für normal halten. Die jüdische Mehrheit in Israel hat sich an den dauernden Konflikt mit den Palästinensern gewöhnt und lebt damit, in dem Glauben, dass es keinen anderen Weg gibt. Bibi (d.Red. Benjamin Netanyahu) hat uns immer wieder eingeredet, der israelisch-palästinensische Konflikt lasse sich nicht lösen, sondern nur verwalten, und gleich vielen anderen Lügen, die Staatschefs ständig wiederholen, wurde auch dieser Unsinn irgendwann geglaubt.

Was ist Ihr wesentlicher Antrieb, zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemen Stellung zu beziehen? Was halten Sie für das Wirkungsvollste?
Als Mensch trage ich die menschliche Verantwortung, Fälle von Unterdrückung anzusprechen und anzugehen, und leider gibt es viele solche Fälle in Israel. Aber die Literatur ist kein Lasttier, das politische Ideologien auf dem Rücken schleppen muss. Ein Buch ist kein Esel, dem man eine Agenda auflädt. Es muss sein Eigenleben haben, wild und frei. Wo der Wolf lauert berührt zwar Fragen von Macht und Privilegien, aber ich will darin nicht gegen die Realität predigen, sondern die Dinge so schildern, wie sie sind, unzensiert.

„Viele Israelis träumen von Relocation nach Amerika.“

Die Originalausgabe Ihres neuen Romans heißt „Relocation“. Welche Deutungen und Assoziationen beinhaltet das für Sie?
Das englische Wort relocation ist als Fremdwort ins Hebräische eingegangen, ohne Übersetzung. Viele Israelis träumen von einer Relocation nach Amerika. Der aktuelle israelische Traum bezieht sich praktisch darauf, an den amerikanischen Traum anzuknüpfen. Die Heldin des Romans, Lilach, hat diesen Traum verwirklicht und ist aus Israel in die USA emigriert. Sie hatte geglaubt, der Ortswechsel würde sie von der nationalen Identität befreien, die sie als belastend empfand, von der anhaltenden israelisch-jüdischen Opfermentalität. Doch in Wirklichkeit entdeckt Lilach, dass sie zwar geografisch eine Relocation erreicht hat, aber seelisch nicht von ihrer jüdisch-israelischen Identität loskommt, immer noch von denselben Urängsten gelenkt wird.

In „Wo der Wolf lauert“ schildern Sie die Geschehnisse aus der Perspektive von Lilach Schuster. Wie würden Sie diese Frau um die 40 beschreiben?
Lilach ist eine Israelin, die den amerikanischen Traum lebt: Ihr Mann ist leitender Direktor im Silicon Valley, sie hat ein Haus mit Pool und einen brillanten Sohn. Lilach ist nach Amerika ausgewandert, um von der blutigen israelischen Politik wegzukommen, aber zu Beginn des Romans wird ihr ruhiges Leben durch einen Anschlag in der örtlichen Synagoge erschüttert. Ihre jüdische Identität, die bisher verdrängt worden war, erwacht nun umso stärker. Später wird Lilach noch mehr aufgerüttelt, als sie entdeckt, dass ihr Sohn Opfer von Gewalt in der Schule geworden ist. Aber der für mich interessanteste Augenblick tritt ein, als Lilach sich zu fragen beginnt, ob ihr Kind für den Tod des Jungen, der ihn gepeinigt hatte, verantwortlich sein könnte. Sie verwandelt sich in eine Art Detektivin, und das Rätsel, das sie zu lösen versucht, ist ihr eigenes Kind. Sie will die Wahrheit aufdecken, fürchtet sie aber auch.

„Basiert auf meinen größten Ängsten als Mutter.“

Inwiefern sind auch Ihre eigenen Erfahrungen oder Ängste als Mutter in Ihren Roman eingeflossen?
Der Roman Wo der Wolf lauert basiert weitgehend auf meinen größten Ängsten als Mutter – der Möglichkeit, dass mein Sohn oder meine Tochter Schaden nehmen könnten, gegenüber der Möglichkeit, dass meine Kinder fähig sein könnten, anderen erheblichen Schaden zuzufügen.

Würden Sie sagen, Lilach und ihr Ehemann Michael haben typische Elternsorgen oder ganz spezielle?
Als Mutter habe ich an erster Stelle den Drang, meine Kinder zu schützen. Vermutlich halten alle Eltern es für ihre Pflicht, eine Art Mauer zu bilden, die ihr Kind vor der Außenwelt schützt. Wir wollen unsere Kinder gegen alle Wölfe und Raubtiere verteidigen, die da draußen vor der Tür lauern. Viele von uns fürchten, ihr Kind könnte Opfer gewaltsamer Übergriffe werden, aber wer von uns erwägt überhaupt die Möglichkeit, das eigene Kind könnte in die Rolle des Angreifers, nicht des Opfers, gleiten? In Wo der Wolf lauert fürchten Lilach und Michael zunächst, ihr Kind sei Opfer von Gewalt geworden. Im weiteren Verlauf kommt ihnen der leise Verdacht, es könnte umgekehrt sein: Vielleicht war ihr Sohn selbst ein Täter. An einer Stelle in dem Buch sagt Michael zu Lilach, er ziehe lieber ein gewalttätiges Kind als ein Opfer auf, denn ein Raufbold könnte aufhören, gewalttätig zu sein, aber „ein Opfer bleibt es sein Leben lang“.

Wie erklären Sie sich das?
Ich meine, Michaels Ausspruch entspricht dem jetzigen Zeitgeist. Die großen Ideologien sind tot. Sie wurden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hingerichtet. In der individualistischen Kultur von heute wollen wir in erster Linie nicht ein „gutes Kind“ aufziehen, sondern „ein Kind, dem es gutgeht“. Die früheren Generationen wollten den „guten Menschen“ schaffen – die Kommunisten den „guten Kommunisten“, die Amerikaner den „guten Patrioten“, die Faschisten den „guten Faschisten“. Heutigen Eltern geht es eher um ein glückliches als um ein ethisches Kind. Und das wird seine Auswirkungen haben, nehme ich an.

Was macht Ihr besonderes Interesse an der Situation von Außenseitern aus und welchen Aspekten wollten Sie dabei nachspüren?
Wir alle haben manchmal das Gefühl, das Leben von außen zu betrachten, Zeugen einer großen Party zu sein, der man von draußen zuschauen kann, ohne als geladene Gäste drinnen sein zu dürfen. Diese Erfahrung, das Leben von außen zu betrachten, gehört zur Biografie jedes schreibenden Menschen. Der Roman Wo der Wolf lauert rückt die Außenseiter in den Mittelpunkt. Lilach, die Heldin, beobachtet die amerikanische Gesellschaft von außen, fühlt sich aber auch der israelischen Gesellschaft nicht ganz zugehörig. Sie ist im Zwischenraum steckengeblieben. Lilachs Sohn Adam fühlt sich als Außenseiter an der High School. Auch der Junge, der Adam peinigte, Jamal, war ein Außenseiter – er gehörte einer anderen Gesellschaftsschicht an als die übrigen Kinder – und vielleicht benutzte Jamal seine Gewaltakte gegen den schwächeren Adam dazu, in den Schülerkreis aufgenommen zu werden, Anerkennung zu spüren. Uri, für den Adam schwärmte, war ein Hightech-Mann, der erfolgreich hätte sein sollen, aber scheiterte und plötzlich arbeitslos war. Wir hören immer von denen, die in Amerika ganz groß rauskommen, den Exit schaffen, aber was ist mit den gefallenen Sternen, den Abgestürzten? Uri will nicht akzeptieren, dass der amerikanische Traum ihn ausgespien hat, er will kein Außenseiter sein.

Ihr Roman beginnt mit Erschütterungen, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf familiärer Ebene. Was wirkt sich am gravierendsten aus und was hat Sie am Leben in unsicheren Zeiten am meisten interessiert?
Wo der Wolf lauert beginnt mit einem Anschlag in einer Synagoge in Kalifornien. Lilach, eine nach Amerika ausgewanderte Israelin, hatte gemeint, ihren Sohn an einem Ort aufzuziehen, der viel sicherer sei als Israel, und muss plötzlich feststellen, dass die USA vielleicht gar nicht so sicher für Juden sind, wie sie gern denken wollte. Der Anschlag hat keinen der Familie direkt betroffen, aber das Grauen, das er bei Lilach ausgelöst hat, treibt sie dazu, ihren Sohn Adam für einen Selbstverteidigungskurs bei einem ehemaligen Kommandosoldaten aus Israel namens Uri anzumelden. Uri gewinnt enormen Einfluss auf Adam. Er strotzt vor israelischer Männlichkeit, die Adam, der schwache Außenseiter, sich ersehnt. Angeregt durch Uri, entwickelt Adam extreme Einstellungen gegenüber Muslimen. Lilach fürchtet langsam, in ihrem emsigen Bestreben, Adam vor einem neuen Angriff zu schützen, könnte sie ihn in einen potenziellen Angreifer verwandelt haben. Das ist der Hass, der aus Hass geboren wurde.

„Ein Konflikt, der in jeder Familie vorhanden ist.“

Was löst das Debakel aus, das den Familienroman zum Thriller macht?
Kurz nach dem Anschlag in der Synagoge geht Lilachs Sohn Adam zu einer Party seiner Mitschüler. Am Ende dieser Fete ist ein Schüler tot, anscheinend an einer Überdosis Drogen gestorben. Doch Lilach entdeckt, dass der tote Junge, Jamal, Adam das ganze Schuljahr hindurch gepeinigt hat. Und sie beginnt sich Gedanken darüber zu machen, ob Jamals Tod tatsächlich ein Unfall war. Dieser Moment, in dem eine Mutter anfängt, ihrem Sohn nachzuspionieren, verwandelt den Roman in einen Thriller. Aber in meinen Augen ist das Spannende an Wo der Wolf lauert eine extreme Ausprägung des Konflikts, der in jeder Familie vorhanden ist – die Spannung zwischen dem Willen der Eltern, jeden Aspekt im Leben ihres Kindes zu kennen und zu kontrollieren, und der beängstigenden Erkenntnis, dass wir real nicht alles über unsere Kinder wissen können und vielleicht auch nicht wissen wollen. Um sie dauerhaft weiterlieben zu können, müssen wir vielleicht blind gegenüber gewissen Elementen bei ihnen sein.

Ein großes Thema scheint für Sie die Kommunikation zu sein, vom Ringen um die richtigen Worte bis zu all dem Unausgesprochenen. Was wollten Sie ausloten und bewusst machen?
Die ungesagten Worte in menschlichen Beziehungen interessieren mich zuweilen mehr als die gesagten. Als Psychologin frage ich mich immer, was meine Patienten mir nicht sagen können. Ich frage Menschen, welche Dinge sie ihrem Partner oder ihren Eltern nicht sagen können. Und die interessanteste Frage ist natürlich, über welche unserer Eigenschaften wir nicht mal mit uns selber reden können. Gute Literatur möchte immer wieder jene Dinge ansprechen, über die die Menschen im Alltag lieber schweigen.

Wie definieren Sie die Rolle der Leserinnen und Leser? Was hoffen Sie auszulösen?
Als Leserin mag ich eine Geschichte, die mich reinzieht, die mich die Uhrzeit vergessen lässt. Wenn ich ein Buch ausgelesen habe, möchte ich spüren, dass es mich weiterhin begleitet, mich wie ein Parfüm umgibt. Als Autorin hoffe ich, dass der Leser das bei meinem Buch empfindet.

Die Hommage von Ruth Achlama, der Übersetzerin u.a. von Ayelet Gundar-Goshen, lesen Sie hier:

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